Privat soll's richten
Der kubanische Sozialismus auf dem Weg ins Museum. 2015
 
Er ist alt und klapprig. Dass er es noch auf seinen Esel schafft, ist beinahe ein Wunder. Er steckt den Fuß in den Steigbügel und zieht sich hoch. Wir fürchten, dass er auf der anderen Seite gleich wieder hinunterfällt, doch er sitzt. Seine Augen unter den schwer gewordenen Lidern sind nach unten gerichtet. In seinem Mund klemmt eine Zigarre. Klischee hin oder Klischee her - die Zigarre muss sein, auch wenn sie kalt ist, schließlich sind wir auf Kuba. Karin stellt sich neben ihn und seinen Esel, und irgendwie gelingt es ihm noch, seine Hand auf ihre Schulter zu legen. Für einen Blick in die Kamera reicht die Kraft offenbar nicht mehr aus. Vielleicht wird mein Bild das letzte von ihm sein, denke ich. Aber etwas Ähnliches habe ich gestern schon gedacht, als wir ihn das erste Mal gesehen haben. Sein Platz ist vor der Kathedrale von Trinidad, wo er darauf wartet, dass sich jemand mit ihm fotografieren lässt, weil er so "typisch kubanisch" aussieht. Umsonst ist das Foto allerdings nicht, einen halben CUC will er dafür haben, das sind etwa 50 Euro-Cent. Wenn man bedenkt, dass das durchschnittliche Monatseinkommen auf der Insel bei 20 CUC liegt, ist das eine Menge Geld. Aber er bekommt es. Von uns - eine Ausnahme, denn gewöhnlich machen wir keine Fotos gegen Bezahlung - und von anderen Touristen. Ein cleverer Bursche. Mag er auch noch so alt und gebrechlich sein - die Zeichen der Zeit hat er verstanden. Ein Motto aus der russischen Geschichte fällt mir ein: "Bereichert euch!". Ein paar Jahre nach der Oktoberrevolution gab es eine Auseinandersetzung zwischen zwei Gruppen über die Frage, wie sich am schnellsten aus dem landwirtschaftlich geprägten Russland ein moderner sozialistischer Industriestaat machen ließe. Die eine Gruppe wollte das materielle Interesse der Menschen als Hebel einsetzen: Strebt nach Gewinn und stärkt auf diese Weise unsere Wirtschaft, das schafft gute Voraussetzungen für den Aufbau des Sozialismus. Also: "Bereichert euch!"
 
 
Die aktuelle Situation in Kuba weist Parallelen auf. Auch hier will man aus einem weitgehend agrarischen Land einen sozialistischen Industriestaat machen, und auch hier setzt man den Hebel des persönlichen Gewinnstrebens ein. Der "neue Mensch", der sich uneigennützig für das Wohl der Gesellschaft abmüht, hat sich als eine Fiktion erwiesen, was inzwischen auch die gegenwärtige Führung unter Raúl Castro begriffen hat. Deshalb hat sie das Steuer herumgerissen, wobei sie allerdings - genau so wie früher die anderen sozialistischen Staaten - das Scheitern ihrer bisherigen Politik nicht deutlich ausspricht, sondern von einer "Aktualisierung des ökonomischen Modells" spricht. Klar, eine kommunistische Partei scheitert natürlich nicht, sie "aktualisiert" ihre Politik, schließlich hat sie auf der Grundlage ihrer Ideologie die Wahrheit gepachtet. Aber wie immer man den Schwenk auch nennen will - vor ein paar Jahren hat die kubanische Führung für mehr als 200 Berufe die "Bereichert euch"-Phase eingeläutet, um die Wirtschaft des Landes voranzubringen. Vielleicht das bekannteste Beispiel sind die Privatunterkünfte, die zugelassen wurden, die Casas Particulares, von denen wir auf unserer Kubareise einige kennengelernt haben. In der 12.000-Seelen-Stadt Vinales beispielsweise gibt es inzwischen rund 800 solcher Quartiere. "Notfalls muss der Opa in der Badewanne schlafen", beschreibt unser Tour-Guide durch die Tabakfelder von Vinales die Situation. "Wenn es eine Möglichkeit gibt, einen Raum in ein Gästezimmer für zahlende ausländische Touristen umzuwandeln, dann wird das gemacht." Und das, obwohl der Staat den Vermietern mit hohen Abgaben kräftig in die Tasche greift. In unserer Privatunterkunft in Vinales sind drei weitere Zimmer im Bau, zusätzlich hat der Hausherr ein Mini-Restaurant für seine Gäste in Angriff genommen und außerdem ein Büro für sich selbst, denn mit der geplanten Belegung wird er schon bald ein richtiges kleines Unternehmen sein. Bei unserer Abreise schreiben wir ihm ins Gästebuch, sollten wir in ein paar Jahren noch einmal Kuba besuchen, werde er wahrscheinlich stolzer Besitzer eines 50-Betten-Hotels sein. Er lächelt über diesen Eintrag, aber er lacht uns nicht aus. Momentan sind die Hotels noch in der Hand des Staates. Aber vermutlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Partei ihre Linie auch in diesem Bereich "aktualisiert".
Paladar ist das spanische Wort für den Gaumen. Warum man für die privaten Restaurants ausgerechnet dieses Wort gewählt hat, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass diese Restaurants gut sind, dass das dortige Essen etwas mit Genuss zu tun hat und mehr als bloße Nahrungsaufnahme ist. Sind die Casas Particulares das Eingeständnis des Staates, dass er bei der Unterbringung der Touristen versagt hat, so dokumentieren die Paladares das Versagen der sozialistischen Küche. Wann immer es möglich war, haben wir in einem Paladar gegessen - besseres Essen als bei den Genossen nebenan, besserer Service und nicht zuletzt ein ansprechendes Ambiente. So etwa in dem ganz in Schwarz und Weiß gehaltenen Restaurant in Vinales, das sich problemlos in die bessere Gastronomieszene jeder beliebigen deutschen Stadt einfügen würde. Ein interessantes Erlebnis war für uns auch das Käse-Restaurant in Havanna. Ein Restaurant nur mit Käse? mag mancher jetzt denken. Ja, genau - aber nicht mit diesem scheußlichen Einheitskäse, den es überall auf der Insel gibt, diese gummiartige gelbe Substanz mit dem faden Geschmack, sondern Käse, der diese Bezeichnung verdient. Keine große Sache in Deutschland, wo es selbst in jedem Dorfsupermarkt eine breite Geschmackspalette gibt. Wohl aber eine Errungenschaft in dem Käse-Entwicklungsland Kuba. Eine private.
 
Privater Initiative zu verdanken sind auch die kleinen Pizza-Verkaufsstellen, die allerorten entstanden sind. Die Läden, die Grußkarten und bunte Schleifen verkaufen, die Boutiquen und Nagelstudios, die Geschäfte für Handyreparaturen, Diätwaren und Schuhe, für trendige Kleider und kitschigen Nippes. Häufig sind die Läden nicht mehr als ein paar Auslagen in einem Hausflur - Klempnerbedarf etwa, wie Rohre, Winkel und Muffen, oder Zubehör für den Elektriker, der im staatlichen Handel schwer zu bekommen ist. Auch der alte Mann in der Nähe unseres Hotels in Havanna ist ein Pionier dieser neuen Zeit. Auf den Stufen eines Hauses sitzend, hält er Tamarinden feil. Bestimmt nicht das ganz große Geschäft, aber der Versuch, auch ein Stück von dem frisch gebackenen privaten Kuchen zu ergattern.
 
 
Und dann sind da noch die Guides, die uns führen. Die junge Frau, die uns auf der Oldtimerfahrt durch Havanna begleitet, die Führer durch das Tabakanbaugebiet von Vinales und den Urwald von Las Terrazas sowie der clevere Typ in Baracoa, der uns den Kakaoanbau der Gegend nahebringt und uns außerdem an ein paar sehenswerte Stellen führt, die wir ohne ihn nicht gefunden hätten. Sie alle haben eine Ausbildung als Lehrer, und jeder von ihnen spricht ein gutes Englisch. (Anders als der staatliche Führer, der uns zu Fidel Castros einstigem Rebellenlager in der Sierra Maestra begleitet.) Aber weil Lehrer gerade einmal 25 CUC im Monat verdienen, was etwa dem gleichen Wert in Euro entspricht, sind sie ebenso wie viele andere qualifizierte Kubaner in den weit einträglicheren Tourismussektor abgewandert. Drängt sich die Frage auf, ob sie damit nicht ein Verlustgeschäft für den Staat sind, der ihre Ausbildung bezahlt hat. Sind sie nicht - denn bevor sie auf eigene Rechnung für Touristen arbeiten dürfen, müssen sie zwei bis drei Jahre für ein geringes Einkommen für den Staat tätig sein. Danach gilt ihre Ausbildung als zurückgezahlt, und sie sind frei. Wobei sie dem Staat allerdings auch dann nutzen, wenn sie nicht als Lehrer arbeiten, braucht der volkswirtschaftlich äußerst wichtige Tourismussektor doch ebenfalls qualifiziertes Personal.
 
Zusätzliche und qualitativ hochwertige Unterkünfte, Restaurants mit einem kulinarischen Erlebniswert, ein besseres Angebot an Waren - war es also eine clevere Entscheidung der Führung unter Raúl Castro, den privaten Sektor zuzulassen? Ja und nein. Ja, weil dadurch die Versorgung der Bevölkerung und der ausländischen Besucher verbessert wurde. Nein, weil es durch diese Politik zu einer immer stärkeren sozialen Differenzierung kommt, die in Ländern mit Marktwirtschaft der Normalzustand ist, die im sozialistischen System Kubas aber zum Problem werden kann. Die einen haben etwas, die anderen hätten es auch gern und sind neidisch. Unsere Casa Particular in Baracoa war ein anschauliches Beispiel dafür: Ein zweistöckiges Haus, in der unteren Etage eine Familie ohne private Vermietung, über deren Wohnung - etwas plakativ gesprochen - ein "Grauschleier" lag. In der Etage darüber unser zwar sehr kleines, doch mit allem Notwendigen ausgestattetes Gästezimmer bei einer Familie, der es deutlich besser ging. Hinzu kommt, dass auf diese Weise anerkannt wird, dass die Privatinitiative staatlicher Lenkung überlegen ist, womit die politische Führung in das eingangs bereits erwähnte grundsätzliche Dilemma gerät: Indem sie auf die Privatinitiative setzt, erkennt sie an, dass die sozialistische Vorstellung von einem "neuen Menschen" mit einem "höheren Bewusstsein", der sich vor allem der Gesellschaft verpflichtet fühlt, nicht realistisch ist. Menschen wie die Brüder Castro oder die Revolutionsikone Che Guevara sind eben nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Für uns ist das keine neue Erkenntnis. Das schmähliche Ende des Sozialismus in der DDR und in Osteuropa hat längst gezeigt, dass dieses System nicht funktioniert. Mag die Kommunistische Partei Kubas den begrenzten privaten Sektor auch als ein Produkt ihrer klugen Politik verkaufen und ansonsten weiter an ihrem ideologischen Blabla festhalten - das "Bereichert euch!" hat schon andere zu Fall gebracht, und über kurz oder lang wird das auch in Kuba geschehen. Wobei die Wiederannäherung an die USA diesen Prozess nur noch beschleunigen dürfte. Um einen klassischen Ausspruch von Friedrich Engels zu variieren, der neben Marx und Lenin in Kuba so hohes Ansehen genießt, dass sich sogar die Verfassung auf ihn beruft: Irgendwann wird der kubanische Sozialismus dorthin versetzt werden, wohin er gehört - "ins Museum der Altertümer, neben das Spinnrad und die bronzene Axt". Das "Bereichert euch!" ist nur der Anfang.
 
Manfred Lentz (Oktober 2015)

Die neuen Berichte auf reiselust.me erscheinen jeweils
am 1. und 15. jedes Monats