Ätzend langweilig?
18 Tage auf einem Containerschiff.
2014
(Teil 1)
 
"Das wird ätzend langweilig!", sagt F. und verdreht die Augen. R. pflichtet ihm bei: "24 Stunden nichts als Wasser, und das über eine solch lange Zeit!" Und auch S. weiß Bescheid: "1966 warst du als Schiffsjunge unterwegs, da hast du gearbeitet. Mit Arbeit vergeht die Zeit. Diesmal reist ihr als Passagiere. Die Kabinendecke wird euch auf den Kopf fallen!" Motivierend ist das nicht gerade, was unsere Bekannten so von sich geben, als sie von unserer bevorstehenden Reise auf einem Containerschiff erfahren. Auf einem Kreuzfahrtschiff - na klar, dafür hätten sie Verständnis. Tolles Ambiente, Lukullus am Kochtopf und coole Events. Aber auf einem Frachtschiff? Um einen herum nur Leute, die den ganzen Tag malochen, das Essen Kantine, und Events, wo bitte sind dort die Events? Ganz abgesehen von: kein Internet, keine Social Media, kein Fernsehen. Eine Schnapsidee! Aber natürlich - danke, F., R. und S.! - muss jeder selbst wissen, wie er seinen Urlaub verbringen will.
 
Genau so ist es. Und deshalb haben wir uns für eine 18-tägige Fahrt auf der "Cap San Lorenzo" entschieden, dem weltgrößten Kühlcontainerschiff, auf der Strecke von Hamburg über Antwerpen und Le Havre nach Santos in Brasilien. Eine langweilige Reise? Im Gegensatz zu unseren Bekannten wäre uns im Traum nicht eingefallen, dass sie es sein könnte. Und tatsächlich lässt sich die Sache auch gleich optimal an, als wir in Hamburg an Bord gehen. Begrüßung durch den Kapitän, eine kurze Einweisung in das Leben auf solch einem Schiff durch den Zweiten Offizier, danach in der Kabine die Koffer abgestellt, und schon sind wir an Deck, denn dort tobt in diesem Augenblick das pralle Leben. So prall, dass wir von den vielen Eindrücken nahezu erschlagen werden.
"Überwältigend" ist das Wort, das uns zu diesem Szenarium einfällt. Knapp 10.000 Container kann die "Cap San Lorenzo" laden, so viel hat sie zwar momentan nicht an Bord, vielleicht 2.000 oder 3.000 weniger, aber das ist immer noch eine gewaltige Zahl. Schräg über uns ist eine von mehreren gigantischen Containerbrücken bei der Arbeit, eine von diesen größten Krananlagen, die es überhaupt gibt. Sie nimmt einen Container an den Haken, setzt ihn am Kai ab, wo er von einem speziellen Fahrzeug (Van Carrier heißt es) abtransportiert wird, und schwenkt schon im nächsten Moment wieder zum Schiff herüber, um sich den nächsten Container zu greifen. Das Gleiche geschieht bei dem Schiff, das vor uns im Hafenbecken liegt, und bei einem anderen gegenüber. Aber als wäre all das noch nicht genug, schiebt sich von der Elbe her ein weiteres Schiff in das enge Becken - "China Shipping Line" steht auf der Bordwand -, vorsichtig Meter um Meter, könnte doch schon die kleinste Unachtsamkeit die größten Folgen haben. Kaum hat das Schiff am Kai festgemacht, treten auch hier Containerbrücken in Aktion, denn Zeit ist Geld, also ran an die Arbeit und nur keinen Leerlauf. Und über all diesem faszinierenden, für uns völlig neuartigen Geschehen liegt eine Begleitmusik, die von wenigen Unterbrechungen abgesehen nie endet: das laute Rollen der Führerkabinen auf den Auslegern der Brücken, das Knallen Metall auf Metall, wenn ein Greifer sich in den nächsten Container einklinkt, das unablässige Gepiepse der Van Carrier, die die tonnenschweren Stahlkisten aufnehmen und zu genau festgelegten Abstellplätzen schaffen, von wo sie in einem weiteren Arbeitsgang auf Bahn und LKW verladen werden. Langeweile, liebe F., R. und S.? Nicht eine Sekunde! Alles ist neu für uns und so spannend und aufregend, dass wir vor lauter Schauen beinahe unser erstes Abendessen versäumen.
Was Essen an Bord konkret bedeutet, darauf werde ich später noch eingehen. Beim ersten Mal ist uns das ohnehin nicht wichtig, hier zählt eher die Kürze der Zeit, in der wir satt werden, denn kaum haben wir aufgegessen, sind wir schon wieder an Deck. Abermals sind wir Zuschauer in der ersten Reihe, später dann drei Stunden Schlaf, und als die "Cap San Lorenzo" gegen 4 Uhr morgens aus Hamburg ausläuft, lehnen wir erneut an der Reling, bis die Elbe hinter uns liegt und nur noch Wasser bis zum Horizont uns umgibt. Im Laufe des Tages dann ein wenig Schlaf nachgeholt, aber nicht zu spät wieder raus aus dem Bett, denn die Einfahrt nach Antwerpen wollen wir auf gar keinen Fall verpassen. Und auch nicht die nach Le Havre am dritten Tag, ebenso wie das anschließende Löschen und Laden und das Auslaufen zwölf Stunden später. Die Folge: Ehe wir es uns versehen, schieben wir ein beachtliches Schlafdefizit vor uns her. Ätzend langweilig?
 
(Wird fortgesetzt)
Manfred Lentz (Januar 2016)
 

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