Idyll contra Hektik
Der Central Park und seine Umgebung. New York 2010 (Teil 2)
 
Nein, wir sehen sie nicht. Und ja, wir hätten sie gern gesehen. Ob wir sie erkannt hätten? Vermutlich nicht, denn natürlich ist sie gealtert und sieht heute ganz anders aus als etwa auf dem Foto, das 1969 in Amsterdam aufgenommen wurde: sie und ihr frisch angetrauter Ehemann bei einer Pressekonferenz im Bett in einem Amsterdamer Hotel, ein Happening, das die beiden als ein "Bed-In" für den Weltfrieden bezeichneten. Aber zumindest wissen wir, dass sie da ist. Dass sie noch immer in dem Haus lebt wie damals, als - elf Jahre nach Amsterdam - das Unglück geschah.
 
Wir stehen vor dem Gebäude mit dem Namen "The Dakota" gleich gegenüber dem Central Park, nachdem wir diesen verlassen haben. Sie - das ist Yoko Ono, der Ehemann ist John Lennon. Und das Unglück, das geschah, ist seine Ermordung am 8. Dezember 1980. Erschossen vor dem Gebäude von einem geistig verwirrten Fan, als er kurz vor Mitternacht mit seiner Frau aus einem Tonstudio zurückkehrte. Eine Gedenkstätte am Rande des Parks erinnert daran. "Strawberry Fields" heißt sie, in ihr gibt es ein Mosaik mit der Inschrift "Imagine", dem Titel eines von Lennons bekanntesten Liedern. Er und Yoko Ono sind nicht die einzigen Namen, die mit dem Dakota verbunden sind. Auch andere Prominente wussten das luxuriöse Appartementhaus zu schätzen, etwa die Schauspielerinnen Judy Garland und Lauren Bacall, der Musiker Sting, der Tänzer Rudolf Nurejew sowie der Komponist Leonard Bernstein. Ob auch "Rosemarys Baby" in seinen späteren Lebensjahren das Dakota geschätzt hätte, wissen wir nicht. Auf jeden Fall erblickte es (in dem Filmklassiker von Roman Polanski) in diesem Gebäude das Licht der Welt.
 
 
Als wir die Straße überqueren, werden wir fast das Opfer eines Autos, das haarscharf an uns vorbeifährt. Unsere Schuld, denn ab jetzt heißt es wieder aufpassen. Während unserer Wanderung durch den ruhigen, idyllischen Central Park hatten wir uns allenfalls vor einem Sonnenbrand in Acht nehmen müssen, jetzt sind wir wieder mittendrin in dem quirligen New York. Erfreuten uns gerade noch Vögel mit ihrem Gezwitscher, so dröhnen uns nun wieder die Geräusche der Acht-Millionen-Stadt in den Ohren. Wir wenden uns in südwestliche Richtung und stoßen an der Ecke des Parks auf einen großen runden Platz mit einer Säule in der Mitte. Columbus Circle heißt er, und - wie naheliegend - der Mann auf der Säule ist Kolumbus, der Entdecker Amerikas. Dominierendes Gebäude und damit der Blickfang am Circle ist das Time Warner Center, dessen zwei Türme uns - und vermutlich nicht nur uns - an die Twin Towers des von Terroristen zerstörten World Trade Centers denken lassen. Neben einem Hotel, teuren Geschäften und edlen Restaurants, einer Konzerthalle und den Studios des Nachrichtensenders CNN befinden sich in einem der beiden Türme Eigentumswohnungen, von denen der "New York Times" zufolge nicht wenige im Besitz von Scheinfirmen oder zwielichtigen Geschäftsleuten und Politikern sind. Eine Tatsache, die bei Preisen von bis zu 45 Millionen Dollar pro Wohnung und Wohnflächen von bis zu 800 Quadratmetern nicht überrascht.
Mit dem Time Warner Center im Rücken schlendern wir die 59th Street Richtung Südosten entlang. Der Central Park liegt jetzt links von uns, und auch von dieser Seite erweist er sich als ein Magnet. Menschen wechseln aus der Hektik in die Idylle und umgekehrt, viele von ihnen sind Touristen, wie man an den umgehängten Kameras und den Reiseführern in ihren Händen leicht erkennen kann. Außerdem verraten sie sich durch jenes häufige Kopfheben, das wir auch von uns kennen, denn anders als unsere deutschen Städte ist New York vor allem eine Stadt in der Vertikale. Skyscraper ist das Wort, zu Deutsch Wolkenkratzer, das uns bereits damals, als wir in der Schule das erste Mal davon hörten, mit ehrfürchtigem Staunen erfüllte. Ein anderes Wort ist für uns neu. Als wir an einer roten Ampel stehen, hält uns ein Zeitungsverkäufer seine Blätter vor die Nase, und zum ersten Mal lesen wir jenes exotische, weil völlig unaussprechliche Wort, das für die nächsten Tage die halbe Welt beschäftigen soll: Eyjafjallajökull, der Name eines ausgebrochenen Vulkans auf Island, der mit seinen Aschewolken einen Großteil des Flugverkehrs auf der Nordhalbkugel zum Erliegen gebracht hat. Ein Naturereignis, das nicht so recht in unsere technisierte Welt passen will, das aber gleichwohl existiert und das erhebliche Auswirkungen auf das Leben von Millionen Menschen hat. Nicht zuletzt auf unzählige New York-Besucher, von denen die einen ihr Ziel nun tagelang nicht erreichen können, während die anderen in der Stadt festsitzen. Ein Problem für mehr als eine Woche, das uns selbst wegen unserer Reisetermine allerdings nicht betrifft. Hätte es das, wäre es aber auch nicht allzu schrecklich gewesen. Schließlich gibt es Schlimmeres als ein paar New York-Urlaubstage extra ...
 
Nach einem knappen Kilometer endet der Central Park zu unserer Linken, und wir erreichen eine Kreuzung, an der die 59th Street von einer der bekanntesten Straßen New Yorks, ja von einer der bekanntesten Straßen der Welt geschnitten wird: der Fifth Avenue. In der einen Richtung bildet sie auf den nächsten vier Kilometern die südöstliche Begrenzung des Parks, in der entgegengesetzten - bekannteren - Richtung wird sie von etlichen Highlights gesäumt, auf die ich in einem späteren Bericht noch eingehen werde. An dieser Stelle will ich lediglich den Apple Store erwähnen, der ein Stück nach hinten versetzt an dieser Straße liegt. Weshalb ich das tue, hat einer unserer Bekannten kurz vor unserem Abflug aus Berlin in die Worte gefasst: "Du Glücklicher, in ein paar Tagen wirst du es sehen." Es - das ist das erste iPad, dieser Geniestreich aus dem Hause Apple, den Steve Jobs kurz zuvor einer staunenden Öffentlichkeit präsentiert hatte. In Deutschland zu diesem Zeitpunkt erst auf Abbildungen präsent, gibt es in New York das iPad bereits live, und deshalb ist ein Besuch im Store schräg gegenüber dem Central Park ein absolutes Muss. Das Entree des Geschäfts ist ein Glaskubus mit einem angebissenen Apfel an der Vorderseite, kein Name, aber vermutlich müsste man nur einer Minderheit auf unserem Planeten erklären, was es mit dem Apfellogo auf sich hat. Über eine gläserne Treppe gelangen wir in das nüchtern-funktional gestaltete Untergeschoss, das die ganze Produktwelt des Unternehmens bereithält, darunter eben auch und vor allem das iPad. Selbst wenn ich es nicht ganz so eng sehe wie viele fanatische Apple-Jünger - irgendwie hatte mein Bekannter doch recht, als er mich einen Glücklichen nannte!
 
 
Über die Umgebung des Central Parks schreiben und dabei die Museen vergessen, geht natürlich gar nicht. Gleich mehrere liegen an seinem Rand, darunter drei der bekanntesten New Yorks überhaupt. Eines davon befindet sich direkt auf dem Gelände des Parks: das Metropolitan Museum of Art. Es ist das größte Kunstmuseum der USA mit einer der umfangreichsten kunsthistorischen Sammlungen der Welt, mehr als drei Millionen Exponate, die jährlich fünf Millionen Besucher anziehen, darunter nun also auch uns. Nicht an dem Tag, an dem wir im Central Park unterwegs sind, versteht sich, denn ein solch gigantisches Museum taugt nicht als ein Anhängsel. Ein solches Museum braucht Zeit. Wobei uns allerdings selbst eine sechsstündige Wanderung durch die Ausstellungen nur einen alleroberflächlichsten Eindruck von den vorhandenen Schätzen vermitteln kann. Das Gleiche gilt ein paar Tage später für das auf der anderen Seite des Parks gelegene American Museum of Natural History. Hier gibt es sogar sagenhafte 30 Millionen Objekte, die von der Steinzeit bis ins Weltraumzeitalter reichen, darunter eine beeindruckende Sauriersammlung und das nicht minder beeindruckende Modell eines Blauwals im Verhältnis 1:1. Abermals sechs Stunden Kultur bis zur Erschöpfung. Schade nur, dass wir ein weiteres am Central Park gelegenes Museum aus Zeitgründen aussparen müssen: das Guggenheim Museum für Moderne Kunst. Doch können wir diesen Verzicht verkraften - schließlich soll unser gegenwärtiger Besuch in der Stadt am Hudson River nicht unser letzter gewesen sein.
 
Manfred Lentz (Mai 2016)

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