Fidels Hütte
In der Bergwelt der Sierra Maestra beginnt Castros Siegeszug auf Kuba. 2015
 
Die Griechen haben das Trojanische Pferd gebaut und anschließend gewartet, bis ihre Feinde sich zur Ruhe gelegt hatten. Mehrere arabische Staaten nutzten den höchsten jüdischen Feiertag Yom Kippur für ihren Angriff auf Israel. Fidel Castro und seine Mitstreiter haben für ihren ersten Revolutionsversuch auf den Karneval gesetzt. Warte, bis der Gegner abgelenkt ist, dann schlage zu! Keine sonderlich originelle Taktik, aber eine, die im Lauf der Geschichte oft funktioniert hat. Nicht so die Sache mit dem Karneval. Diese Aktion ist gescheitert, und hätte nicht ein illoyaler Leutnant der Regierungstruppen die Ermordung Fidel Castros sabotiert, so würde von letzterem kaum jemand auch nur dessen Namen kennen. Und das Museum, zu dem uns Ramon mit seinem 1975er Plymouth gefahren hat, hätte es auch nicht gegeben. Aber der Reihe nach.
 
Am Anfang der 1950er Jahre ist Kuba ein Spielball der USA. Amerikanische Konzerne beherrschen die Wirtschaft, für die amerikanische Mafia ist das Land das reinste Paradies. In dieser Situation stehen Parlamentswahlen an. Eine Partei, die der junge Rechtsanwalt Fidel Castro unterstützt, hat gute Aussichten auf einen Sieg. Käme sie an die Regierung, würde sie ihrem Programm entsprechend den US-Interessen Daumenschrauben anlegen. Doch soweit kommt es nicht, denn kurz vor den Wahlen putscht sich ein Mann namens Fulgencio Batista an die Macht. Fidel Castro zieht vor Gericht und klagt gegen den Verfassungsbruch. Sein Vorstoß scheitert, aber Castro ist keiner, der so leicht ans Aufgeben denkt. Indem er sich auf das in der Verfassung verankerte Widerstandsrecht gegen den Usurpator beruft, schart er Gleichgesinnte um sich und plant dessen Sturz. Erstes Ziel ist die Erstürmung der Moncada-Kaserne in Santiago de Cuba. Bei den Truppen Batistas wollen sich die Rebellen mit Waffen versorgen und anschließend den Aufstand ins ganze Land tragen. Der 26. Juli 1953 erscheint ihnen optimal für den Angriff auf die Kaserne, denn zu diesem Zeitpunkt befindet sich Santiago auf dem Höhepunkt des Karnevals (der auf Kuba im Sommer begangen wird). Die Gluthitze dieser Jahreszeit in Verbindung mit durchgefeierten Nächten sowie Unmengen von Rum wären - so die Erwartung - ideale Voraussetzungen für das Gelingen des Plans. Auch die Soldaten würden erschöpft sein, vermuten Castro und seine Kameraden, weshalb sie sich trotz ihrer der zahlenmäßigen Unterlegenheit und der schlechteren Bewaffnung im Vergleich zu den Batista-Soldaten gute Chancen für ihr Vorhaben ausrechnen.
 
 
In den Morgenstunden des 26. Juli brechen die Aufständischen mit 16 Autos auf. Zwei verfahren sich in der Stadt - was ich gut nachvollziehen kann, nachdem ich auf unserer Rundfahrt durch Kuba die schlechte Beschilderung kennengelernt habe -, ein Wagen bleibt mit einem platten Reifen liegen, nur 13 erreichen die Kaserne. Trotz karnevalsbedingter Ausfälle bei den Soldaten ist deren Widerstand heftiger als erwartet, und so kommt es nach kurzem Kampf zum Desaster. 19 Soldaten und 61 Aufständische finden den Tod, mehrere Männer - darunter Fidel Castro und sein Bruder Raúl, die gegenwärtige Nummer eins auf Kubas - können sich verstecken. Doch ihre Verfolger machen sie ausfindig und schaffen sie in ein Gefängnis in Santiago. Nur dem mutigen Einsatz des eingangs erwähnten Leutnants ist es zu verdanken, dass Fidel Castro bei dieser Gelegenheit nicht ermordet wird. Hätte der Mann sein eigenes späteres Schicksal geahnt, hätte er womöglich anders gehandelt: Nach dem Sieg der Revolution zu Castros Leibwächter gemacht, spricht er sich schon bald öffentlich gegen dessen Politik aus, worauf er im Gefängnis landet. Auf 15 Jahre lautet das Urteil, von denen er zwei Drittel absitzen muss.
 
Obwohl der Sturm auf die Moncada-Kaserne also ein Fiasko war, gilt der Tag dieses Ereignisses seither als der Anfang der Revolution auf der Insel und ist Nationalfeiertag. In dem Gebäude befinden sich heute eine Schule und ein Museum, das an das damalige Geschehen erinnern soll. Die Fassade des Museums ist von Einschusslöchern übersät, nicht den originalen, die haben Batistas Leute nach dem gescheiterten Putsch zugeputzt. Die heutigen hat Castro später neu einfügen lassen. In der Ausstellung befinden sich zahlreiche Dokumente, Fotos und persönliche Gegenstände der Akteure jener Zeit, die für die nachfolgenden Generationen die damaligen Ereignisse lebendig machen sollen. Nicht die Sache mit dem Leutnant natürlich, sondern die Untaten der Schergen Batistas sowie die Heldentaten der eigenen Seite, auf die das heutige Kuba seine Identität gründet.
 
Die Strafen, die das Regime seinerzeit gegen die Aufständischen verhängte, waren hart, viele Jahre Haft, von denen die Betroffenen wegen einer von der Öffentlichkeit erzwungenen Amnestie indes nur einen kleinen Teil absitzen mussten. Fidel Castro selbst - als Hauptverantwortlicher für den Aufstand war er zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt worden - kam nach zwei Jahren wieder frei und das in einem Zustand, auf den seine eigenen politischen Gefangenen in späteren Jahren neidisch gewesen sein dürften. Seine revolutionären Ambitionen waren durch die Moncada-Niederlage nicht gebrochen. Zusammen mit seinem Bruder Raúl ging er nach Mexiko, sammelte erneut Gleichgesinnte um sich, zu denen bald auch Che Guevara gehörte, und beschaffte abermals Waffen. Ende 1956 kehrten die drei zusammen mit 82 weiteren Männern auf der Yacht "Granma" nach Kuba zurück. In einem unwirtlichen Gebiet im Osten der Insel schufen sie sich einen Stützpunkt, um von hier aus den Kampf gegen Batista fortzusetzen. In den Bergen der Sierra Maestra.
Wir erreichen diese Gegend von Bayamo aus, auf Straßen, die zunehmend einsamer werden und erkennen lassen, dass wir uns einem abgelegenen Landesteil nähern. Die Straße befindet sich über weite Strecken in einem schlechten Zustand, aber das sind wir nach 1.500 Kilometern Kuba gewöhnt. Irgendwann tauchen am Horizont Berge auf, schließlich geht es aufwärts. Nahe dem Dörfchen Santo Domingo finden wir Unterkunft in einer großartigen Landschaft, wie man sie von Kalenderfotos her kennt. Von dort brechen wir am nächsten Morgen auf, nicht allein, sondern zu einer geführten Tour, da man das Hauptquartier der Rebellen nicht auf eigene Faust erkunden darf. Ein Auto mit Vierradantrieb bringt uns zum Ausgangspunkt unserer Wanderung rund 700 Meter oberhalb unserer Unterkunft, auf einer Straße, deren extremer Anstieg auf Kuba einzigartig ist und der vermutlich auch weltweit nicht allzu oft übertroffen wird. Ein vom Staat beauftragter Guide nimmt uns in Empfang (alle anderen Führungen auf unserer Reise wurden von privaten Guides durchgeführt), und unsere kleine Gruppe marschiert los. Von der Landschaft sehen wir von nun an nur wenig, denn der Weg führt zumeist durch einen Urwald voll exotischer Bäume. Obwohl wir im Schatten laufen, beginnen wir angesichts der hohen Luftfeuchtigkeit, immer heftiger zu schwitzen. Doch das Bewusstsein treibt uns vorwärts - das Wissen, dass dies dieselben Pfade sind, auf denen Fidel Castro und seine Guerilleros (1958 waren das rund 300 Mann) seinerzeit unterwegs waren, um Batistas Truppen (etwa 10.000 Mann) zu attackieren. Bei einem Bauern legen wir eine Rast ein. Sein Großvater, so erzählt er, habe die Rebellen bei ihrem Kampf unterstützt, eine mutige Tat - und heute für den Enkel ein gutes Geschäft, wenn man den Preis des uns angebotenen Kaffees in Rechnung stellt. Noch ein gutes Stück müssen wir anschließend marschieren, dann haben wir das Hauptquartier erreicht, die Comandancia General de la Plata, wie es offiziell heißt.
 
"Hier hat Che Guevara die Bauern aus der Umgebung verarztet", berichtet unser Führer, als wir vor der ersten Hütte des Lagers stehen, dem "Hospital". Ernesto Che Guevara - der Arzt aus Argentinien, der ein wohlhabendes Elternhaus verlassen hatte, um etwas gegen die elenden Lebensbedingungen vieler Menschen auf Kuba und in anderen Ländern zu unternehmen, und der 1967 in Bolivien von der Soldateska des dortigen Diktators ermordet wurde. Kurz darauf halten wir abermals an, diesmal auf einer großen Freifläche. "Hier ist Fidel Castro mit einem Hubschrauber gelandet, als er vor einigen Jahren diesem Schauplatz aus seiner Vergangenheit einen Besuch abstattete." Verständlich, dass er nicht mehr zu Fuß kam, denn längst sind aus den Kämpfern von einst alte Männer geworden. "Und von hier aus sendete Radio Rebelde", erfahren wir vor einer weiteren Hütte. "Ein kleiner Sender, mit dem die Revolutionäre die Bevölkerung informieren und Werbung für ihre Ziele machen wollten." Wenig später die Küche: "Hier durfte nur nachts gekocht werden, denn der aufsteigende Rauch hätte den Regierungstruppen den Standort des Lagers verraten."
 
 
Und dann stehen wir vor der "Casa de Fidel", Fidels Hütte, dem Allerheiligsten des Lagers. Bauern aus der Umgebung haben sie errichtet, ein Wohn- und ein Schlafraum mit einer Regalwand für Bücher und einem Schreibtisch davor, an dem - die Vorstellung fällt leicht - der Anführer der Guerilleros über die nächsten Schritte seines Kampfes gebrütet haben dürfte. Einen Kühlschrank gibt es ebenfalls - nicht für Getränke, sondern zum Kühlen von Medikamenten, darunter vermutlich auch jenen, die der an Asthma leidende Che Guevara benötigte. "Und Frauen?", will ich von unserem Guide wissen und deute auf das große Bett hinter dem Schreibtisch. Der Angesprochene grinst, aber gleichzeitig wirkt er irritiert. Vielleicht ist derlei Menschliches etwas, über das man in Bezug auf einen Maximo Lider nicht spricht. Aber ich habe auch ohne eine Antwort eine Vermutung, schließlich war Castro nicht nur ein Revolutionär, sondern auch ein Mann.
 
Ende 1958 haben die Männer aus der Comandancia General de la Plata ihr Lager verlassen und den Kampf auf andere Weise bis zum Sieg fortgeführt. Am 1. Januar 1959 erschien Fidel Castro in Santiago und damit in jener Stadt, in der mit dem gescheiterten Sturm auf die Moncada-Kaserne die Revolution ihren Anfang genommen hatte. Diesmal war er der Sieger. Batista war einen Tag zuvor aus Kuba geflohen, und so konnte Castro vom Balkon des Rathauses vor jubelnden Anhängern den Sieg über den verhassten Diktator verkünden. Der Kampf gegen das Alte war zu Ende, für Kuba brach ein neues Zeitalter an.
 
Manfred Lentz (Dezember 2016)
 
 
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