Der Stromboli -
vom Leuchtfeuer zur Filmkulisse. Italien 2016
 
Axel, 19 Jahre alt, Neffe von Professor Lidenbrock und gleichzeitig sein Assistent, hat Angst, und das ist verständlich. Da haben sie den Hirtenknaben endlich zum Reden gebracht, haben erfahren, dass sie sich auf der Insel Stromboli befinden, und nun sollen sie den Männern am Hafen erklären, wie sie dort hingekommen sind. Sagen sie die Wahrheit, werden die Männer ihn und seine Gefährten vermutlich für Teufel halten, die der Hölle entstiegen sind, und was dann? Wie sollten sie ihnen auch überzeugend erklären, was sie auf ihrer Reise in den Schoß der Erde alles erlebt haben? Hinabgetaucht durch einen Vulkan auf Island, sind sie auf einem Floß über ein unterirdisches Meer gefahren, haben Bekanntschaft mit monströsen Champignons gemacht und sind ausgestorbenen Tier- und Pflanzenarten begegnet, sie sind auf die Überreste von Urmenschen gestoßen, haben einen Kampf zwischen zwei Sauriern beobachtet und sind schließlich in den Krater des ausbrechenden Stromboli gelangt und von dort auf die Erde zurückgeschleudert worden. Genau so hatte es sich zugetragen, aber natürlich würden die Männer ihnen diese Geschichte nicht abnehmen. Weit sicherer wäre es, sie gäben sich als Schiffbrüchige aus. Was sie denn auch tun.
 
 
Es ist eine sehr ungewöhnliche Art, auf die Insel Stromboli zu gelangen, die Jules Verne da in seinem 1864 erschienenen Roman "Die Reise zum Mittelpunkt der Erde" beschreibt. Wir selbst sind in dieser Hinsicht sehr viel bodenständiger als seine Helden und wählen das Tragflächenboot, das täglich Vulcano - unser letzter Aufenthalt - und Stromboli miteinander verbindet. Beide Inseln haben einiges gemeinsam: Sowohl Vulcano als auch Stromboli gehören zu den westlich von Sizilien gelegenen Liparischen Inseln, beide sind so klein, dass man sie nicht auf Anhieb auf der Landkarte findet, und jede besitzt einen Vulkan, der denselben Namen trägt wie die jeweilige Insel. Auch die Zahl der Bewohner ist mit 600 bis 700 bei beiden gleichermaßen gering, dafür ist die Zahl der Touristen in der Hauptsaison um so größer. Aber es gibt auch Unterschiede, und den ersten lernen wir gleich bei unserer Ankunft am Hafen kennen. Verkehren auf Vulcano die üblichen Autos wenn auch nur wenige -, so setzt man auf Stromboli ausschließlich auf elektrogetriebene Minitaxis, motorisierte Dreiräder und Motorroller. Eine Auswahl, die der Enge der Gassen geschuldet ist, durch die diese Fahrzeuge mit einem Affenzahn hindurchrasen - so dicht an den Mauern der Häuser und Gärten entlang, dass wir als Fahrgäste wiederholt den Atem anhalten. Ein weiterer Unterschied zu Vulcano erwartet uns an der Rezeption unserer Unterkunft: ein achselzuckendes "Sorry, no Internet", gefolgt von der Erklärung, wegen der weiten Entfernung Strombolis von Sizilien sowie der geringen Einwohnerzahl hätten es weder die Telekommunikationsunternehmen noch die Regierung für notwendig erachtet, die kleine Insel an die große Internet-Welt anzuschließen. Sehr ärgerlich für die Bewohner. Jules Verne hätte bestimmt eine Lösung für dieses Problem gefunden.
Aber eineinhalb Tage ohne Internet sind schon mal zu ertragen, und das gelingt uns auch deshalb ganz gut, weil die Insel ihren Besuchern einiges zu bieten hat. Etwa den reizvollen Hauptort (der ebenfalls den Namen Stromboli trägt) mit den engen Gassen, den weiß getünchten Häusern und den Gärten, in denen Zitronen und Orangen reifen, Feigen und Mandeln. Ein malerischer Anblick vor allem dann, wenn am Ende der Gasse der Blick auf das azurblaue Meer fällt oder auf den Vulkan. Wie hoch der ist, hängt von seiner Aktivität ab, da immer mal wieder Teile des Kraters abbrechen oder aufsteigende Lava ein paar Meter hinzufügt. Die Zahlen schwanken zwischen 918 und 968 Metern, wobei sich diese Angaben nur auf den Teil beziehen, der aus dem Meer herausragt. Unter Wasser geht der Vulkan weiter. Ganze 2.000 Meter ist das Meer an dieser Stelle tief, so dass sich die gesamte Höhe des Stromboli auf etwa 3.000 Meter beläuft. Eine Größenordnung, mit der er dem Ätna nicht nachsteht, und der ist der höchste Vulkan Europas. Seit mehr als zwei Jahrtausenden ist der Stromboli ständig aktiv - ein Umstand, den früher die Seefahrer schätzten, weil der Berg ihnen wie ein Leuchtfeuer die Richtung wies, und der heute für viele Touristen der Hauptgrund für einen Besuch auf der Insel ist. Ihr Motto: ein Kurztrip nach Stromboli und rauf auf den Vulkan.
 
Es ist früh am Abend, wenn die Vulkantouristen aufbrechen, um das feurige Spektakel zu erleben, Gruppen von 20 bis 30 Männern und Frauen, ausgerüstet mit festem Schuhwerk und warmer Kleidung, Schutzhelmen, Taschenlampen und einem Vorrat an Wasser. Angeführt werden sie von einheimischen Bergkundigen (der Aufstieg in Eigenregie ist verboten), die ihren "Hausberg" genau kennen. Die in Funkkontakt mit einem Observatorium stehen, das den Berg mit Messinstrumenten und Live Cams permanent überwacht und die, sollte er plötzlich unruhig werden, jederzeit gewarnt werden können. Zwei Stunden geht es auf kräftezehrenden Pfaden aufwärts bis zu einer Stelle, von wo aus man bei einsetzender Dunkelheit das Schauspiel am Berg beobachten kann. Vorausgesetzt, es gibt an diesem Tag überhaupt etwas zu sehen, denn trotz seiner prinzipiell ständigen Aktivität ist der Stromboli ein launischer Gesell, der sich um die Werbesprüche der Bergtourenveranstalter einen Dreck schert.
 
Ausgestoßene Asche, Gasaustritte, glühende Fontänen und hervorquellende Lava ... Auch wir hätten an einer solchen Wanderung gern teilgenommen, hätte uns Karins ein paar Wochen zuvor gebrochener Fuß nicht einen Strich durch die Rechnung gemacht. Für uns gibt es nur die kleinere Variante der Vulkantour, einen Rundweg bis auf eine Höhe von 400 Metern, der ohne offiziellen Führer begangen werden darf. Wobei "die kleinere Variante" keineswegs eine schlechte bedeutet, denn auch diese Exkursion hat ihren Reiz. Nicht zuletzt wegen des Blütenmeers, durch das wir laufen - viel gelbblühender Ginster und Blumen in allen Farben, die uns durch ihre verschwenderische Fülle bezaubern. Aber natürlich gehört vor allem dem Vulkan unsere Aufmerksamkeit, der dunkel, geheimnisvoll und irgendwie auch bedrohlich vor uns aufragt. Und der immer wieder auf sich aufmerksam macht. Als wir das dumpfe Grollen zum ersten Mal hören, denken wir zunächst an eine akustische Täuschung. Doch wenige Minuten später grollt es abermals, und dann wieder und wieder. Einmal meinen wir gar, ein Flugzeug zu hören, ein lang anhaltendes Geräusch, das uns zum Himmel hinaufschauen lässt. Doch da ist kein Flugzeug - der Verursacher dieses und aller anderen Geräusche ist der Berg.
 
 
An der Sciara del Fuoco dürfen wir nicht weiter hinauf, an der Feuerrutsche, einem Steilhang zwischen Krater und Meer. Fällt das vom Stromboli ausgeworfene Material auch meist in diesen zurück, so gab und gibt es auch Ausbrüche von ganz anderer Art. Hohe Lavafontänen etwa, die begleitet von weithin vernehmbaren Explosionen ausgestoßen werden und die sich anschließend über die Sciara del Fuoco ins Meer ergießen. Im Jahr 2002 etwa riss ein ungewöhnlich starker Lavafluss einen Teil des Vulkankegels ab und ließ ihn ins Meer stürzen. Eine zehn Meter hohe Flutwelle war die Folge, dazu verursachten glühende Steinbrocken zahlreiche Brände. Für mehr als zwei Monate wurden alle Inselbewohner evakuiert, und die Touristenschiffe stellten ihren Dienst ein. Vier Jahre später kam es erneut zu kräftigen Eruptionen, abermals flossen Lavaströme die Feuerrutsche hinunter ins Meer und bildeten ein beachtliches Delta. Etwas ähnliches ereignete sich zwei Jahre vor unserem Besuch. Auch Tote hat es bei solchen Ausbrüchen bereits gegeben, wobei ihre Zahl glücklicherweise gering blieb. Dennoch sind all das Indizien, dass der mitunter als relativ harmlos beschriebene Stromboli keineswegs domestiziert ist. Wenn der so häufig benutzte Satz vom "Tanz auf dem Vulkan" irgendwo Wirklichkeit ist, dann hier.
 
Ob wir den 1949 gedrehten Film "Stromboli, Terra di Dio" des Regisseurs Roberto Rossellini gesehen hätten, fragt uns der Besitzer unserer Unterkunft. Haben wir nicht, müssen wir einräumen, aber wir werden dieses Versäumnis zu Hause nachholen. Die Bewohner Strombolis sind stolz auf diesen Film, der ihre winzige Insel für kurze Zeit in das Blickfeld einer internationalen Öffentlichkeit rückte, auch wenn die Insel dabei gar nicht so gut wegkam. Die Hauptrolle in dem Film spielte Ingrid Bergmann, die sich für die Dreharbeiten ebenso wie Rossellini mehrere Wochen auf Stromboli aufhielt (und bei dieser Gelegenheit eine Affäre mit ihm hatte). Im Film ist sie eine Litauerin namens Karin, die in einem Flüchtlingslager den Soldaten Antonio heiratet, um dem Lager zu entrinnen. Antonio nimmt sie mit auf seine Insel Stromboli, mit der sich Karin allerdings überhaupt nicht anfreunden kann. Armut, Kargheit und eine allen Fremden gegenüber feindselige Haltung der Bevölkerung lassen sie verzweifeln. Als der Vulkan ausbricht und die Bevölkerung die Nacht in kleinen Fischerbooten auf dem Meer verbringen muss, beschließt sie - inzwischen schwanger - zu fliehen, da sie ihr Kind nicht auf dieser Insel zur Welt bringen will. In einem dramatischen Höhepunkt des Films versucht sie, über den Vulkan die andere Seite der Insel zu erreichen, wo es das einzige Motorboot gibt, das sie wegbringen könnte. - Was für Karin alias Ingrid Bergmann seinerzeit zum Martyrium wurde, geriet zu einem Glücksfall für die Insel, die als Folge des Films mit einem Schlag in aller Munde war. Hatten zuvor viele Bewohner Stromboli verlassen, weil es keine Arbeit für sie gab, so kehrte sich diese Entwicklung nun plötzlich um. Neugierige kamen, die den Ort des Filmgeschehens kennenlernen wollten, und nach und nach entwickelte sich der Tourismus zum wichtigsten Wirtschaftsfaktor, der Jahr für Jahr immer mehr Besucher anlockte. Und nun, im Mai 2016, also auch uns.
 
 
Manfred Lentz (Juli 2017)
 
 
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