Top-Adressen der Wiener Museumslandschaft (Teil 2)
Das Kunsthistorische Museum. Österreich 2017
 
Was für ein Anblick: ein abgetrennter Frauenkopf mit schmerzverzerrtem Gesicht, die weit aufgerissenen Augen starren ins Leere, der Mund ist leicht geöffnet, als wollte er noch ein letztes Wort sagen, kann es aber nicht mehr. Um den blutverschmierten Hals ringeln sich Schlangen und anderes Gewürm. Fehlen nur noch die Kettensäge und der Irre, der das angerichtet hat. Aber weit gefehlt. Was eine Szene aus einem Horrorfilm zu sein scheint, ist große Kunst. "Das Haupt der Medusa", steht unter dem Bild, das kein Geringerer gemalt hat als der bedeutende flämische Maler Peter Paul Rubens und das in einem der bedeutendsten Tempel der internationalen Kunstwelt hängt, im Kunsthistorischen Museum zu Wien. Einst die jungfräuliche Dienerin der griechischen Göttin Pallas Athene, hatte Medusa Sex mit Poseidon, dem Gott des Meeres, worüber Athene so in Wut geriet, dass sie ihre Dienerin zur Strafe in ein grausig anzusehendes Ungeheuer verwandelte, das jedermann Unglück bringen sollte. Erst Perseus, der Held ohne Tadel, setzte dem Grauen ein Ende, indem er der Medusa den Kopf abschlug. Ein radikaler Schnitt sozusagen. Das Ergebnis sehen wir hier. Große Kunst.
 
 
Sieben Tage Wien, die Temperatur knapp unter der 40-Grad-Marke, dennoch kämpfen wir uns tapfer durch die drei Museen, die auf unserer To-Do-Liste stehen. Über das großartige Naturhistorische habe ich bereits berichtet, in dem aktuellen Beitrag geht es um die Kunst, und die hat ihren Platz vor allem im Kunsthistorischen Museum gefunden. Ebenso wie das Naturhistorische unter Kaiser Franz Joseph am Ausgang des 19. Jahrhunderts erbaut, enthält dieser architektonische Prachtbau (2015: 1,4 Millionen Besucher) eine der bedeutendsten Gemäldesammlungen der Welt, unter anderem mit Werken von Tizian und Tintoretto, Rembrandt und Raffael, Caravaggio, Velazquez, Albrecht Dürer und Lucas Cranach und eben Rubens mit Medusas Kopf. Viele der gezeigten Bilder scheinen demselben Horrorkabinett zu entstammen, die zahlreichen sonstigen Enthauptungen etwa - Holofernes, Goliath oder Johannes der Täufer -, die Blendungen, Häutungen oder sonstwelche Verstümmelungen insbesondere der endlosen Reihe christlicher Märtyrer, die um so zufriedener waren, je grausamer es zuging. Von den geradezu inflationären Kreuzigungsszenen Christi, die ganz generell einen beträchtlichen Teil der abendländischen Malerei ausmachen, gar nicht zu reden. Aber es gibt auch andere Bilder, Darstellungen von Menschen und Göttern, griechischen und römischen, die sich sämtlich - wollte man respektlos sein - unter der Überschrift "Sex sells" subsumieren ließen. Fleisch satt sozusagen, und das auch dort, wo vom Inhalt eines Bildes die Darstellung von Nacktheit nicht zwingend geboten wäre. Mich - aber vielleicht bin ich ja ein Kunstbanause - erinnert das stark an unsere heutigen Zeitschriften, die nur allzu gern jedwedes Thema hüllenlos präsentieren, weil Nacktheit nun einmal ein überzeugendes Verkaufsargument ist. In Wiens Kunsthistorischem Museum sind das etwa der Selbstmord einer barbusigen Kleopatra auf einem Bild von Cagnacci, ein bogenschnitzender Amor, dessen bloßes Hinterteil Liebhaber von Knaben in Entzücken versetzen dürfte, die zahlreichen fleischbetonten Göttinnen oder Nymphen aus dem griechisch/römischen Sagenschatz oder jene Kämpferin in einer Rüstung, die ausgerechnet die Brüste ausspart - ein Minus im Kampf, aber ein Plus für den damaligen Käufer.
Sex and Crime also, aber natürlich gibt es neben diesen beiden Schwerpunkten noch jede Menge Gemälde mit ganz anderen Themen. Werke von einem Künstler namens Giuseppe Arcimboldo zum Beispiel, von dem zwei fantasievoll gestaltete Männerköpfe zu sehen sind - einer aus Früchten bestehend, der andere aus Feuer und Waffen -, oder Gemälde des niederländischen Malers Pieter Bruegel d.Ä., von dem das Wiener Museum sich rühmen darf, die weltweit größte Sammlung zu besitzen. Unendliche Fleißarbeiten sind es, auf denen uns Bruegel die Menschen seiner Zeit vorstellt, bei einer Bauernhochzeit etwa, als Akteure auf zugefrorenen Seen, wo sie warm eingemummelt auf Schlittknochen über das Eis flitzen oder auf einem von Bruegels bekanntesten Werken, dem Turmbau zu Babel. Ein Werk, das nicht nur Generationen von Kunsthistorikern beschäftigt hat, sondern ebenso die Erforscher des Mittelalters, die auf diese Weise anschaulich studieren konnten, mit welchen technischen Hilfsmitteln man damals baute. Zu genießen sind all diese Highlights der europäischen Malerei in einem Ambiente, das selbst ein ganz besonderes Erlebnis ist: mit Stoff bespannte Wände, an denen die Gemälde aufgehängt sind, Parkettfußböden und weiche Sitzgelegenheiten in warmen Farben, von denen aus das Betrachten der Kunstwerke spätestens gegen Ende des Rundgangs, wenn die Füße schon müde sind, mehr Spaß macht als beim langen Davorstehen.
 
Das Bild "Die Heilige Justina" von Alessandro Bonvicino stellt die Verbindung zu dem zweiten Kunstmuseum her, das wir besuchen, der Kaiserlichen Schatzkammer Wien. Zu sehen ist auf diesem Bild unter anderem ein Einhorn, das neben der Heiligen liegt und dem Betrachter sein Horn entgegenstreckt - oder vielleicht sollte man besser sagen: sein Hörnchen, denn sonderlich eindrucksvoll ist das gezeigte Exemplar nicht. Rein gar nichts etwa im Vergleich zu dem Horn, das wir in der Schatzkammer sehen, und dort auch noch live. Die Schatzkammer befindet sich in der Hofburg. Sie ist ein Teil der einstigen Sammlungen des Hauses Habsburg und beherbergt ausschließlich das Beste vom Besten, unter anderem eben besagtes Horn von einem vermeintlichen Einhorn. Einem "Ainkhürn", wie es hier genannt wird. Fast zweieinhalb Meter misst das gute Stück, und es ist eines von nur zwei Exponaten - das andere ist eine Schale aus einem riesigen Achat -, die als so überaus wertvoll gelten, dass sie schon vor Jahrhunderten als unveräußerlich deklariert wurden, d.h. bis in alle Ewigkeit beim Haus Habsburg bleiben sollen. Fünf Sterne also, ach was sage ich, sieben Sterne oder noch mehr. Hätten die hohen Herrschaften seinerzeit auch nur geahnt, worum es sich bei dem vermeindlichen Horn eines Einhorns in Wirklichkeit handelte - sie hätten seinen Verkäufer höchstwahrscheinlich am nächsten Baum aufgeknüpft und das Corpus Delicti den kleinen Prinzen des Palastes zum Spielen gegeben. Ist das Stück doch nichts anderes als - um es mit einem modischen Wort zu sagen - ein Fake: der (durchaus eindrucksvolle) Zahn eines Narwals, gefangen in nördlichen Meeren und von cleveren - vielleicht sollte man richtiger sagen: von skrupellosen - Händlern für Unsummen an die ahnungslosen Mitteleuropäer verkauft, in deren christlich geprägter Glaubenswelt das Einhorn eine wichtige Rolle spielte. Vermutlich dürften die Geschäfte mit solchen Hörnern zu den einträglichsten der Geschichte gehört haben.
 
 
Ein Fake als Mega-Highlight - doch alle anderen Dinge in diesem Museum sind echt. Die überaus wertvollen Kleidungsstücke etwa, darunter Ornate des Ordens vom Goldenen Vlies, dem höchsten Orden der Habsburgermonarchie, oder prächtige Messgewänder mit aufwändigen, heute kaum noch nachzuahmenden Stickereien und edelsten Materialien wie Gold, Seide und Perlen. Imposante Schmuckstücke gibt es, liturgische Gefäße, Reliquienbehälter unter anderem mit dem Schweisstuch der Veronika oder einem Kreuzpartikel, und - ein ganz besonderes Exponat - die Wiege des kleinen Napoleon Franz, des Sohnes von Napoleon. Auch mehrere Kronen sind Bestandteil der Sammlung, darunter die Reichskrone aus dem 10. Jahrhundert, die zu den Herrschaftsinsignien deutscher Könige und Kaiser gehörte. In benachbarten Vitrinen kann man das Reichsschwert und das Reichskreuz bewundern, den Reichsapfel und das Zepter - auch sie zu den Insignien gehörend, die anlässlich der Krönung dem jeweiligen neuen Herrscher übergeben wurden.
Und dann ist da noch die Heilige Lanze, auch sie ein Teil der Reichsinsignien. Der Überlieferung nach enthält sie ein Stück eines Nagels vom Kreuz Christi, und weil der Legende nach ein römischer Hauptmann mit ihr den Tod des Gekreuzigten überprüfte, soll sie sogar noch mit dessen Blut getränkt sein. Kein Wunder, dass der Besitzer dieser Lanze angesichts solch heiliger Kraft als unbesiegbar galt - so etwa Kaiser Otto I, der sie vor mehr als eintausend Jahren im Kampf gegen die Ungarn mit sich führte und siegte. Um die Lanze sowie die anderen Insignien während der Herrschaft Napoleons vor dessen Zugriff zu bewahren, wurden sie von ihrem ursprünglichen Aufbewahrungsort Nürnberg nach Wien verbracht, von Hitler später wieder nach Nürnberg geholt und am Ende des Zweiten Weltkriegs von den siegreichen Alliierten zurück an die Donau geschafft, wo sie heute zu den bedeutendsten Objekten der Schatzkammer gehören. Kein Wunder, dass deren Sammlung eine der am meisten besuchten in Wien ist. Oft genug warten lange Besucherschlangen auf Einlass, um all diese Kostbarkeiten zu bestaunen.
 
Als wir nach dem Besuch der Schatzkammer wieder auf die Straße hinaustreten, ist es die Rückkehr in eine völlig andere Welt als die, die wir gerade erlebt haben. Österreich - das ist heute ein hübsches kleines Land mit knapp 9 Millionen Einwohnern, vielen Bergen und leckerem Essen. Nett, um einen Urlaub dort zu verbringen oder sich auf einer Städtereise die Hauptstadt anzuschauen. Das Österreich der Vergangenheit indes war ein ganz anderes, es war eine der europäischen Großmächte, sowohl territorial als auch politisch, und das ist noch nicht einmal so lange her. Eine Besucherin der Schatzkammer - eine Wienerin - bringt diesen Gedanken in einem Kommentar auf der Touristikwebseite TripAdvisor auf den Punkt: "Hier hat man einen wunderbaren Überblick", schreibt sie, "was das Habsburgerreich früher einmal bedeutet hat und welch große Rolle es spielte." Und weiter, und dieser Satz ist bestimmt nicht nationalistisch gemeint: "Da wird sogar das Herz einer Österreicherin stolz und wehmütig."
 
Manfred Lentz (Oktober 2017)
 
Ein erster Bericht über Österreich findet sich unter der Nummer 178.
 
 
 
Die neuen Berichte auf reiselust.me erscheinen jeweils
am 1. und 15. jedes Monats