Der Grand Canyon -
eine großartige Komposition aus Stein und Fels.
USA 2011
 
Es gibt Sehenswürdigkeiten, von denen man noch nie gehört hat und von deren Existenz man erst erfährt, wenn man in Vorbereitung eines Urlaubs den Reiseführer durchblättert. So gibt es in Frankreich etwa die Tropfsteinhöhle Aven Armand (siehe Bericht 45), in Schottland die einsam gelegene Bahnstation Corrour (siehe Bericht 29) oder in New York eine sehr sehenswerte Straße namens Diamond Row (siehe Bericht 32). Auf alle drei Attraktionen machten uns erst unsere Reiseführer aufmerksam, aber bei jeder waren wir uns im Nachhinein einig, dass der Besuch sich gelohnt hat. Daneben gibt es noch eine andere Kategorie von Sehenswürdigkeiten, von denen weiß man, ohne erst darauf aufmerksam gemacht werden zu müssen. Ja, mit ein wenig Übertreibung könnte man sagen, die hat man beinahe schon mit der Muttermilch eingesogen. Der Eiffelturm in Paris etwa ist solch ein Ziel dieser besonderen Art, Loch Ness in Schottland und in den USA die Freiheitsstatue in New York, die Stadt des Glücksspiels Las Vegas oder - jeder hat von ihm gehört, jeder hat Bilder von ihm gesehen - der Grand Canyon in Arizona.
 
 
Der Grand Canyon! Er ist die größte Schlucht der Erde, eine der tiefsten, und obendrein ist er der Canyon mit den meisten Besuchern, rund fünf Millionen pro Jahr. Aber obwohl diese Mega-Sehenswürdigkeit mit rund 450 Kilometern sehr lang ist und sie den vielen Gästen an ihren Rändern jede Menge Platz bieten würde, gibt es lediglich zwei Stellen, an denen sich die Massen konzentrieren. Möglichkeiten zum Übernachten gibt es an beiden, doch da man auf sanften Tourismus setzt und die Kapazitäten begrenzt hält, sind diese schnell ausgebucht, was die Interessenten zu langen Vorausplanungen zwingt oder zum Pokern, ob sie mit Glück vielleicht eines der begehrten Betten ergattern. Wir gehören zur Pokergruppe. "Übernachten sie bei uns!", lockt uns die Dame an der Rezeption unseres Motels in Flagstaff. "Viele machen das so. Sie fahren morgens zum Canyon und kehren abends hierher zurück." Ihre Worte verunsichern uns, allerdings sind es von Flagstaff bis zum Canyon noch stattliche 100 Kilometer, weshalb wir doch lieber auf unser Glück setzen und weiterfahren. Die Strecke ist eher langweilig - die Vegetation besteht fast ausschließlich aus Kiefern (was vermutlich mit der Höhe von 2.000 Metern zusammenhängt, auf der wir uns befinden), es gibt weder einen Ort noch ein Hotel und auch keinen Aussichtspunkt, nichts, wo man Halt machen möchte. Erst ein paar Kilometer vor dem Canyon stoßen wir auf eine Ansammlung von Gebäuden zu beiden Seiten der Straße. "Tusayan" steht auf dem Schild. Wir beschließen, unser Glück nicht allzu sehr zu strapazieren und nehmen, anstatt gleich bis "ganz nach vorn" zu fahren, ein Zimmer. Unsere Wahl fällt auf die "Red Feather Lodge", ein Name, der nach Indianern und Wildem Westen klingt, also genau nach dem, was in unserem Film-und-Fernsehen-Bewusstsein diese Gegend im Südwesten der USA ausmacht.
 
Wer meine bisherigen Berichte verfolgt hat, der weiß, dass wir nicht zu denen gehören, die über das Essen in fremden Ländern meckern. Nicht überall isst man à la francaise, doch leckere Gerichte gibt es überall auf der Welt. Das Frühstück bei "McDonald's" - Tusayan bietet leider kaum Alternativen - ist allerdings ein Erlebnis, das nicht unerwähnt bleiben soll: eine Art labbriger Kekse mit Sirup, künstlich schmeckendes Ei, undefinierbare Körner in einer undefinierbaren Flüssigkeit zu einem Pamps von scheußlichem Aussehen verquirlt, dazu weiße wabbelige Brötchen. Den kleineren Teil quält der Hunger rein, der Rest landet im Müll. Wie um alles in der Welt, so fragen wir uns, kann eine Nation, die so viel Großartiges geschaffen hat, solch grauenhaftes Essen hervorbringen? Eine Frage, auf die wir keine Antwort wissen. Doch da wir nicht wegen kulinarischer Erlebnisse hier sind, sondern das Land kennen lernen wollen, steigen wir in unser Auto und fahren die letzten Kilometer. An einer Park Entrance Station werden wir zur Kasse gebeten: 25 Dollar kostet der Eintritt in den "Grand Canyon National Park", dafür erhält man eine Genehmigung für sieben Tage. Wenig später parken wir unseren Wagen vor der "Bright Angel Lodge" auf dem South Rim, dem Südrand des Canyons. Als wir aussteigen, fallen uns zahlreiche kleine Häuschen auf, die zweifellos für die Übernachtungsbesucher bestimmt sind. Sofort fangen wir Feuer: Was für ein Erlebnis müsste es sein, nur wenige Schritte vom Grand Canyon entfernt zu wohnen! Man könnte ihn mit wenigen Schritten besuchen, so oft man wollte, und das zu jeder Tages- und Nachtzeit. Wir erkundigen uns an der Rezeption der Lodge nach freien Kapazitäten, eine Schnapsidee, wie wir wissen, denn natürlich ist alles längst ausgebucht. Doch gänzlich unerwartet haben wir Glück und bekommen ein Häuschen für drei Nächte. Ein Hauptgewinn im Lotto hätte kaum größere Begeisterung auf unsere Gesichter gezaubert!
Was folgt, sind drei Tage in einer Landschaft, die einzigartig ist ... ach was, der Begriff Landschaft ist viel zu schlapp, denn der Grand Canyon ist eine großartige Komposition aus Stein und Fels, eine grandiose Schöpfung der Natur, so genial, dass es einem glatt den Atem verschlägt. Hart am Abhang führt der Weg entlang und gibt den Blick frei auf einen Teil jener Schlucht, die der Colorado River in Jahrmillionen gegraben hat. Sehen kann man den Fluss vom Canyon-Rand nicht, er fließt rund eineinhalb Kilometer tiefer und ist durch Felsen verdeckt, aber man ahnt, dass er da ist. Er war es, der mit urtümlicher Kraft über einen langen Zeitraum hinweg diese faszinierende Kulisse geschaffen hat. Schautafeln beschreiben den Prozess, und Brocken uralter Gesteinsformationen veranschaulichen ihn, einige von ihnen beinahe zwei Milliarden Jahre alt, als das Leben auf unserem Planeten noch in den Anfängen steckte. Immer wieder halten wir an auf unserem Weg, wir können uns nicht satt sehen an dieser Sehenswürdigkeit, die nun, da wir vor ihr stehen, noch weit sehenswerter ist, als die Reiseführer es berichten. Tränen steigen mir in die Augen, und ich kann nicht mehr sprechen, so überwältigt bin ich von diesem Anblick - ein Ausbruch von Emotionen, den ich bis dahin nur aus der Musik kannte.
 
Die meisten der fünf Millionen Besucher bleiben am Rande des Canyons und wandern die Wege entlang, die dort seit der Schaffung des Nationalparks im Jahr1919 angelegt wurden. Auch wir gehören zu ihnen. Doch mehr ist möglich - Hubschrauber-Flüge durch den Canyon etwa, die wortreich angeboten werden und unvergleichliche Erlebnisse versprechen. Wir lassen uns die Sache durch den Kopf gehen, aber 500 Dollar für zwei Personen für einen 50-Minuten-Flug sind eine Menge Geld. Und außerdem: Würde man bei sechs Personen in der Kabine überhaupt alles gut sehen und fotografieren können? Und wäre das, was man über das bereits Gesehene hinaus kennen lernen würde, wirklich das große Erlebnis? Da unsere Bedenken überwiegen, verzichten wir auf einen Flug. Aber es gibt noch mehr, was man im Canyon unternehmen kann: Wanderungen hinunter zum Colorado etwa - nicht an einem einzigen Tag, denn das ist nicht möglich - oder Rafting, Flussfahrten mit Schlauchbooten. Da es in der Vergangenheit wiederholt Todesfälle bei derartigen Aktivitäten gegeben hat, gelten dafür heute strenge Regeln. Überhaupt - man sollte den Grand Canyon nicht einen Park nennen, schreiben zwei, die es wissen müssen, in einem Buch, sondern eine Wildnis, ein Begriff, der den Besuchern mehr Respekt abfordern würde. Abgestürzt, verdurstet, verhungert - fast 700 Menschen haben in den Schluchten des Colorado bisher ihr Leben gelassen, viele davon, weil sie meinten, in einem Park zu sein, vielleicht auch in einer Art Disneyland. Nicht zuletzt die Indianer vom Stamm der Havasupai wissen das besser, rund 650 sind es, die wie schon ihre Vorfahren noch heute in einem Seitenarm des Grand Canyon leben. In einer Welt, die sich Eindringlingen gegenüber nicht zimperlich zeigt: bis zu 45°C Hitze im Sommer (im Schatten!), im Winter Temperaturen oft unter dem Gefrierpunkt, dazu Regenstürme, die reißende Springfluten auslösen, abrupte Wetteränderungen und abgehendes Gestein.
 
 
Bricht der Abend an, dann wird es ruhiger am Canyon, wenn die Busse der Tagesausflügler verschwunden sind und nur noch diejenigen zurückbleiben, die hier einen Platz für die Nacht haben. Mit der untergehenden Sonne beginnen die Felsen intensiver zu leuchten, rot und lila, rosa und orange, ein Spektrum von Farben, das sich immer wieder ändert und erst mit dem Untergang der Sonne ein Ende findet. Grau setzen sich nun die Wände des Canyons gegen den Himmel ab, der Wind weht kühler, die Vögel, die sich während des Tages beinahe übermütig in die Tiefe gestürzt hatten, haben ihre Nachtquartiere bezogen, und über dem Canyon treten allmählich die Sterne hervor. In den Bars und Restaurants spielt das Leben noch bis Mitternacht, danach kehrt für eine Weile Ruhe ein. Auch wir beenden den Tag, doch bereits ein paar Stunden später weckt uns das Klingeln unseres Weckers wieder auf. Es ist noch dunkel, als wir zum Canyonrand gehen. Nach und nach kommen weitere Frühaufsteher hinzu, mit warmer Kleidung gegen die morgendliche Kälte geschützt und mit Kameras in den Händen, die Blicke auf die gegenüber liegende Seite des Canyons gerichtet. Bald schwindet die Finsternis, und die Sterne verblassen. Und dann, während Hunderte Augen in dieselbe Richtung starren und Dutzende Kameras klicken, geht die Sonne auf, sie steigt höher und überzieht die Felsen mit einem goldenen Licht. Ergriffen stehen wir da und schauen, wie die Schatten zu wandern beginnen und wie ein Teil des Canyons nach dem anderen zu neuem Leben erwacht. Einzig das Zwitschern der Vögel ist zu hören, ansonsten herrscht Stille, ein geradezu andächtiges Schweigen von Menschen, die den neuen Tag am Grand Canyon begrüßen. Es ist ein Tagesanbruch, den wohl niemand, der dabei war, jemals vergessen wird.