Die Copacabana -
der berühmteste Strand der Welt.
 Rio de Janeiro 2014
 
Was für ein Idyll: Vom Balkon unseres Zimmers in der 11. Etage des "Olinda Rio Hotel" sehe ich die Sonne aufgehen. Auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht steigt sie empor, überzieht den Horizont mit einem satten Orange und leuchtet wie Gold im Wasser. Auf dem Boulevard vor unserem Hotel, der Avenida Atlantica, herrscht um diese Zeit erst wenig Verkehr. Auch die Gehsteige mit dem typischen Wellenmuster sind noch weitgehend leer. Und was den Strand anbelangt, der sich vom einen Ende der Bucht bis zum anderen zieht - kein Mensch. Am Vorabend sind wir angekommen, mit einem Containerschiff von Hamburg nach Santos und anschließend per Flugzeug nach Rio, wo wir vor unserer Rückkehr nach Deutschland noch eine Woche verbringen wollen. Der Sonnenaufgang über der Copacabana ist der perfekte Einstieg in diese Woche.
 
Zwei Stunden später sieht unsere Umgebung völlig verändert aus. Rio ist erwacht, und eine quirlige Betriebsamkeit hat eingesetzt, die bis in die Nacht hinein anhalten wird. Gut gestärkt durch ein opulentes Frühstück, starten wir unsere erste Erkundungstour. Am Ausgang des Hotels hält uns der Portier die Tür auf, und dazu deutet er auf unsere Taschen und sagt etwas, das wir als "Achtung, aufpassen!" interpretieren. Wir antworten mit einem noch ungeübten "obrigado" (danke), dem einzigen Wort, das wir in seiner Sprache - Portugiesisch - bis dahin beherrschen. Von der verbreiteten Kriminalität, auf die uns der Mann aufmerksam machen will, wissen wir bereits. Schließlich wurde in den Medien oft genug darüber berichtet, also werden wir vorsichtig sein. Unser erstes Ziel ist der Strand, nicht nur weil er von unserem Hotel aus die nächstgelegene Sehenswürdigkeit ist und überdies so berühmt, sondern auch, weil sich von dort der beste Blick auf die millionenfach abgelichtete Szenerie bietet. Allerdings ist die Überquerung der Avenida Atlantica kein leichtes Unterfangen. Die Straße ist breit und der Verkehr dicht, womit die eigenartigerweise zwischen den Fahrbahnen gelegenen Tankstellen neben ihrer eigentlichen Funktion zugleich zu einer Art Rettungsinsel für Fußgänger werden. Nach einigem Warten entdecken wir eine Lücke in dem dichten Fahrzeugstrom und sprinten auf die andere Seite.
 
 
Nachdem wir noch mehreren Joggern ausgewichen sind, für die es zwischen Straße und Gehweg eine eigene Laufstrecke gibt, und nachdem wir außerdem den ersten Sonnenbrillenverkäufer erfolgreich abgewimmelt haben, der uns vermutlich ebenso wie seine zahlreichen Kollegen in den nächsten Tagen noch etliche Male über den Weg laufen wird, schauen wir uns um. Wie viele andere Strände beschreibt auch die Copacabana einen Bogen, dem die Uferstraße in ihrer gesamten Länge folgt. Zur Stadt hin beherrschen neben Cafés und Restaurants rund siebzig Hotels das Bild, bis auf wenige Ausnahmen allesamt moderne Bauten, von denen man einen weiten Ausblick auf den Atlantik und den Strand aus weißem Sand hat. Auf den beeindruckend sauberen Strand - ein Umstand, der uns als Besucher aus dem eher schmuddeligen Berlin sofort ins Auge sticht - und auf den nur mäßig frequentierten, wie wir überrascht feststellen. Kein "Teutonengrill"-mäßiges Eng an Eng, wie wir es an diesem Strand eigentlich erwartet hatten, der mit dem Attribut "der berühmteste der Welt" versehen wird. Aber vielleicht ist das ja darauf zurückzuführen, dass die von vielen Urlaubern besonders geschätzte wärmste Zeit des Jahres noch nicht begonnen hat.
 
Gespannt, was es auf den vier Kilometern Strand alles zu sehen gibt, reihen wir uns in den Strom der Promenierenden ein. Einen "Treffpunkt der Schönen und Reichen" hat man die Copacabana mit einem weiteren Schlagwort häufig genannt, vor allem in den 1930er bis 1950er Jahren, in denen sie ihr goldenes Zeitalter hatte. Die Reichen, so haben wir gelesen, würden sich heute eher am benachbarten Strand von Ipanema tummeln. Und die Schönen? Die sind nach wie vor da. Selbstbewusst stellen sie sich auch heute noch zur Schau - manche joggend oder auf Inlineskates zwischen Gehsteig und Straße, andere an Trainingsgerüsten, an denen sie mit Klimmzügen und Stretching ihre Deluxe-Körper in Form halten, auf den Beachvolleyballfeldern am Strand und mitunter auch auf den Liegen der Masseusen, wo sie sich - glänzend in der Sonne wie Speckschwarten - ihre Sixpacks durchkneten lassen. Doch es gibt auch solche, die mitnichten zu den Schönen gehören, sich aber dafür halten. Gleich bei unserem ersten Spaziergang stechen sie uns in die Augen. Sie sind braungebrannt, meist nur spärlich bekleidet und oft schon in fortgeschrittenem Alter, aber nichtsdestoweniger entschlossen, sich von den wirklich Schönen nicht das Wasser abgraben zu lassen. Was unser Reiseführer als "Körperkult zelebrieren" beschreibt, ließe sich in ihren Fällen wohl eher als ein hemmungsloses Zurschaustellen von Schwabbelfleisch und welker Haut bezeichnen, das in seiner Aufdringlichkeit nicht leicht zu überbieten ist.
Wir bummeln bis zum Ende des Strands, wo ein paar Fischer ihren Fang an Einheimische verkaufen - ein Bild, das wie eine Reminiszenz an eine vergangene Zeit anmutet. Dann machen wir kehrt und gehen den Weg zurück, diesmal mit Blick auf den Zuckerhut, der als eines der Wahrzeichen von Rio hinter dem gegenüberliegenden Strandende aufragt. Wiederholt hat die Copacabana in der Vergangenheit als Kulisse für Großveranstaltungen gedient. So etwa bei einem kostenlosen Konzert der Rolling Stones mit mehr als einer Million Besucher im Jahr 2006, einem Konzert im Rahmen des "Live Earth"-Festivals im darauffolgenden Jahr sowie 2013, als Papst Franziskus am Strand den Abschlussgottesdienst des 28. Weltjugendtags feierte, an dem mehr als drei Millionen Menschen teilnahmen.
 
Bummeln macht durstig, vielleicht sind es auch die 30°C, die das Thermometer bereits am Vormittag anzeigt, weshalb wir uns in eines der kleinen Strandrestaurants setzen, von denen es an der Copacabana gefühlt mehrere Dutzend gibt. Wir haben kaum unsere Bestellung für zwei Kokosnüsse aufgegeben, als auch schon die ersten Händler erscheinen. Der Sonnenbrillenmann, den wir bereits kennen, sowie ein Kollege mit Keksen. Da wir während unserer Rio-Woche kein Warenlager aufbauen wollen, bleibt uns nur ein entschiedenes "No!". Wenig später - die Kokosnüsse sind ausgetrunken, und der Ober hat gerade zwei Bier und einen Teller Sardinen vor uns hingestellt - taucht eine Frau auf. Dass sie zu den Armen der Stadt gehört, hätten wir auch ohne die Hand bemerkt, die sie uns bettelnd entgegenstreckt. "Sardinhas", sagt sie dazu und führt gleichzeitig die andere Hand an den Mund. Was sie außerdem sagt, ist vermutlich Portugiesisch für "Ich habe Hunger". Mag das nun stimmen oder nicht - wir geben ihr ein paar von unseren Sardinen, die sie blitzschnell in eine Serviette einschlägt und in einer Tasche verschwinden lässt. "Obrigado" sagt sie noch, dann eilt sie weiter. Vermutlich stammt sie aus einer der Favelas, die sich ein paar Straßenzüge hinter dem Strand den Felsen hinaufziehen.
 
 
Copacabana besitzt drei solcher Armenviertel. Wobei Copacabana in diesem Fall nicht den Strand meint - ein verkürzter, aber allgemein üblicher Gebrauch dieses Namens -, sondern den Stadtteil von Rio, in dem wir uns gerade befinden. Einen Stadtteil mit 300.000 Einwohnern, von denen viele in den Favelas leben. Vor allem von dort rekrutieren sich die zahllosen Strandverkäufer und die Sammler von Flaschen und Plastikmüll, die von einem Abfalleimer zum nächsten ziehen. Aber auch diejenigen stammen von dort, vor denen uns der Hotelportier am Morgen gewarnt hat: die Kriminellen und insbesondere die Kinderbanden, die am Strand und in dessen Umgebung ihr Unwesen treiben. Verglichen mit früheren Jahren sind ihre Aktivitäten deutlich zurückgegangen, Folge einer massiven Polizeipräsenz, die zwar wirksam war, aber natürlich nicht die krassen sozialen Unterschiede beseitigt hat, die den Nährboden für diese Probleme bilden. So treffen wir nur wenige Schritte von dem Strandluxus entfernt auf Menschen, die lediglich mit einem Stück Pappe als Unterlage auf dem Gehsteig schlafen, oder auf jene Bettlerin, der wir am Tag unserer Abreise die noch übriggebliebenen kleinen Münzen schenken und die uns daraufhin mit offenem Mund anstarrt, als seien ihr gerade zwei Geister erschienen.
 
Gegen 18 Uhr verabschiedet sich die Sonne, doch die Copacabana noch längst nicht. Flutlicht erhellt den Strand, und die Ballspieler - anstatt nach Hause zu gehen - setzen ihr Spiel bei künstlichem Licht fort. Wir nehmen den Sonnenuntergang zum Anlass, einen Sundowner zu trinken - keinen Whisky, versteht sich, in Rio ist Caipirinha angesagt. An einem Imbissstand auf der Straße lassen wir uns nieder und genießen das leicht süßliche, leicht säuerlich-herbe Getränk. Der Besitzer des Standes hat schnell erkannt, dass wir Deutsche sind und spricht uns auf die erst wenige Wochen zurückliegende Fußball-WM an, Deutschland gegen Brasilien 7:1. Wir schalten auf wachsam: Gibt es gleich Ärger? Böse Worte? Einen Streit? Mitgefühl mit den unterlegenen Brasilianern heuchelnd, zucken wir die Schultern, als wollten wir uns entschuldigen für den deutschen Sieg - doch der Mann lacht, schlägt mir kumpelhaft auf die Schulter und beginnt, wortreich halb auf Portugiesisch, halb auf Englisch über den Trainer seiner Mannschaft zu schimpfen. Worauf sich das, was die Brasilianer geradezu als eine nationale Katastrophe empfunden haben, in Wohlgefallen auflöst. Wir sind erleichtert, stimmen ihm eilfertig zu - na klar, der Trainer war schuld! - und bestellen eine zweite Runde Caipis. Als wir uns schließlich von unserem neu gewonnenen Freund verabschieden, schwanken wir ein wenig, sind aber noch standfest genug, eine Strandbar anzusteuern, aus der Musik dringt. Ein Gitarrenspieler und eine Sängerin, etliche Zuhörer, darunter ein alter Mann, der - angeregt von den Rhythmen - seinen Rollator stehen lässt, um das Tanzbein zu schwingen. Wollen Sie es sehen, dann klicken Sie hier.
 
Manfred Lentz (August 2016)
 
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