Ätzend langweilig?
18 Tage auf einem Containerschiff. 2014
(Teil 3)
 
Vor ätzender Langeweile an Bord haben uns Freunde und Bekannte gewarnt, doch die Aktivitäten in den Häfen sowie das, was ich in Teil 1 und Teil 2 dieses Berichts beschrieben habe, lassen nicht viel Platz dafür. "Volle 12 Tage seid ihr auf dem Wasser", haben sie uns gewarnt, "das sind beinahe zwei Wochen, und das 24 Stunden an jedem Tag." Stimmt, 12 Tage in jeder Richtung nichts anderes als Wasser. Aber natürlich ist das nicht alles, schließlich haben wir ja auch noch das Schiff, und auf dem gibt es jede Menge zu entdecken. Wobei die Maße zunächst vielleicht gar nicht so aufregend klingen - Länge 333 Meter, Breite 48 Meter, Höhe 68 Meter. Doch welche Dimensionen sich hinter diesen nüchternen Zahlen tatsächlich verbergen, merken wir schnell, als wir sie ablaufen.
 
Zwei  Möglichkeiten stehen uns für unsere Exkursionen zur Verfügung. Da gibt es einmal den Weg auf dem Oberdeck, der um das gesamte Schiff herumführt. Also draußen an der frischen Luft in schier endlosen Gängen an der Reling entlang, zumeist unter den aufgestapelten Containern hindurch, eine Strecke mit einer Gesamtlänge von mehr als 700 Metern. Mit einem Abstecher in den Maschinenraum, wenn wir Lust dazu haben, was allein schon eine größere Unternehmung ist. Oder auf die Aufbauten über der Maschine nach oben, von wo wir einen tollen Blick über die Container hinweg auf die anderen Aufbauten haben, in denen sich unter anderem die Brücke und die Kabinen befinden. Auf dem Vorderschiff stoßen wir auf zwei mächtige Anker sowie mehrere aus armdickem Gestänge bestehende kastenförmige Gebilde, deren Bedeutung sich uns Landratten allerdings nicht erschließt. "Womöglich zum Einsperren von bösen Ehefrauen", sage ich beim Mittagessen und ernte dafür bei unseren Tischnachbarn - dem Kapitän, dem Ersten Offizier und dem Chef der Maschine - ein Schmunzeln. Wir Männer sind halt manchmal so leicht zu erfreuen. Nachsichtig verraten uns die Seebären (warum heißen sie eigentlich nicht "Seeratten" in Anlehnung an uns?) die tatsächliche Funktion dieser Gebilde: ein Schutz für die Mannschaft beim Festmachen des Schiffes am Kai. Selbst die dabei benutzten dicken Seile bzw. Leinen könnten reißen und beim Zurückschnellen womöglich einen Mann erschlagen, deshalb dieser Schutz.
 
 
333 Meter in der entgegengesetzten Richtung gibt es anderes, was uns beeindruckt. Da ist etwa die Kiellinie des Schiffs, fast völlig gerade, weil der Autopilot jede von Wind und Wellen hervorgerufene Abweichung vom eingestellten Kurs zügig ausgleicht. Was keine Kleinigkeit ist, lässt es sich in dem beweglichen Medium Wasser doch sehr viel schwerer steuern als beispielsweise mit einem Auto auf festem Untergrund. Als wir uns umdrehen, zieht eine offenstehende Tür unsere Aufmerksamkeit auf sich. "Eintritt verboten" würde dort jetzt stehen, befänden wir uns auf einem Kreuzfahrtschiff, denn natürlich kann man ein paar Tausend Reisende nicht überall herumwuseln lassen. Doch dies ist nun einmal ein Frachtschiff, und wir sind nicht ein paar Tausend Passagiere, sondern lediglich drei. Da wir neugierig sind, treten wir durch die Tür. Über einige Stufen gelangen wir in einen Raum, in dem rund 400 CO2-Flaschen ordentlich neben- und hintereinander aufgereiht sind. Gas, das im Falle eines Brandes zum Einsatz käme, sollte das Löschen mit Wasser nicht möglich sein. Für uns ein weiteres Lehrstück zum Thema Schiffssicherheit.
 
Mehr als 700 Meter auf dem Oberdeck um das Schiff herum - aber das ist nicht alles. Bei einem Sturm wäre die Benutzung dieses Weges entlang der Reling viel zu gefährlich, deshalb gibt es unter Deck noch einen zweiten, etwa gleich langen Weg, den Passageway. Auch hier also wieder Hunderte von Metern. Gesäumt ist die Strecke von diversen Elektroinstallationen, außerdem befinden sich hier die Zugänge zu den Luken, den unter Deck liegenden Laderäumen. Wobei das Wort Zugänge eigentlich zu nüchtern klingt - es sind schwere, mit Handrädern zum Öffnen versehene Stahltüren, die den Eingang in eine halbdunkle, fast ein wenig gespenstische, aus hallengroßen Räumen bestehende Unterwelt bilden. Wie auf dem darüberliegenden Deck, sind auch hier zahllose Container übereinander gestapelt, bis zu neun in der Höhe und - je nachdem, in welchem Teil des Schiffes man sich befindet - mehr als ein Dutzend in der Breite. Wieder sind wir allein, auch hier gibt es niemanden, der uns an die Hand nimmt oder uns Vorschriften macht. Natürlich wüssten wir gern Genaueres über die geladenen Waren, doch wie wir bereits gelernt haben, finden sich bei den Containern - außer bei den Spezialbehältern für chemische Produkte - keinerlei Hinweise darauf. Lediglich die Nummern auf den Außenseiten könnten uns etwas über den Inhalt verraten, vorausgesetzt, wir hätten Einblick in die Ladepapiere bzw. die Computerdaten, für die auf der "Cap San Lorenzo" der Erste Offizier zuständig ist. Vielleicht sind es Maschinenteile, Motorräder oder Bücher, Müsliriegel oder bayerisches Weißbier, Kuckucksuhren oder Vasen aus Meißner Porzellan - eben alles, wonach in den Ländern auf unserer Route eine Nachfrage besteht und was sich in TEUs oder FEUs verpacken lässt, in 20 bzw. 40 Fuß langen Containern. Und das ist beinahe unendlich viel, wie man sich vorstellen kann.
Über den Maschinenraum habe ich in einem früheren Beitrag berichtet - ebenfalls eine Welt für sich, und weil sie für uns Laien so vollständig fremd ist, eine spannende. Und dann sind da noch die Brückenaufbauten, elf Decks insgesamt, oder wie man an Land sagen würde: elf Etagen. Da eine solche Höhe keine Kleinigkeit ist und wohl niemand Lust verspürt, sie mehrmals am Tage hinauf- und hinunterzusteigen, sind die Decks durch einen Aufzug miteinander verbunden. Aus den Laderäumen gelangt man über das Oberdeck unter anderem in den Küchenbereich, zu den Kabinen für die Mannschaft, den Kapitän und die Passagiere bis ganz nach oben auf die Brücke. In das "Allerheiligste" des Schiffes, zu dem wir ebenfalls Zugang haben, abgesehen von den wenigen kritischen Momenten, etwa wenn das Schiff in einen Hafen einläuft und bei allen Verantwortlichen allerhöchste Konzentration angesagt ist. Zu allen sonstigen Zeiten sind wir gern gesehene Gäste - neugierige, die dem jeweiligen wachhabenden Offizier Löcher in den Bauch fragen: Was auf den verschiedenen Radarschirmen alles zu sehen ist, wo man die Entfernung zum nächsten Hafen ablesen kann, wie man Informationen über Schiffe erhält, denen wir begegnen, welche Einträge ins Logbuch gemacht werden und und und. Auch hier wieder die Frage dieser Berichtsserie: Langeweile?
 
Aber man kann ja nicht ständig auf dem Schiff herumlaufen, würden unsere Freunde und Bekannten jetzt sicherlich sagen. Natürlich kann man das nicht, und wir haben auch keineswegs die Absicht, das zu tun. Nicht zuletzt deshalb, weil es auch noch andere Betätigungsmöglichkeiten an Bord gibt. Beispielsweise können wir im Fitnessraum etwas für unsere Gesundheit tun oder in den Swimmingpool springen, der zwar winzig, aber immerhin vorhanden ist. Auch eine Sauna steht zur Verfügung, die auf dieser Fahrt wegen der Außentemperaturen allerdings nicht angeschaltet wird. Ein Vergnügen für die kalte Jahreszeit, denn auch in den Wintermonaten ist die "Cap San Lorenzo" auf ihrer Stammroute unterwegs. Lesen können wir auch - entweder das, was wir von zu Hause mitgebracht haben oder die Nachrichten über das Weltgeschehen, die uns der Kapitän freundlicherweise jeden Tag ausdrucken lässt. Vor allem aber können wir eines, und ohne das wäre diese ganze Fahrt nur halb so schön: stundenlang auf einem der Decks sitzen - in aller Regel völlig ungestört - und auf das Meer schauen. Auf dessen wechselnde Farben, auf das Spiel der Wellen, gelegentlich auf ein Schiff, das in der Ferne vorbeizieht oder auf Fliegende Fische. Delphine und Wale sehen wir zu unserem Bedauern nicht, vor allem aber müssen wir auf ein anderes Highlight auf dieser Reise verzichten: auf den überwältigenden nächtlichen Sternenhimmel über dem Meer, den ich auf meiner ersten Fahrt im Jahr 1966 wiederholt erlebt habe. Diesmal machen uns Nacht für Nacht dicke Wolken einen Strich durch die Rechnung.
 
 
Dafür meint es die Sonne um so besser mit uns. Beinahe jeden Tag verabschiedet sie sich auf eine so malerische Weise, wie man es sich als Reisender nur wünschen kann. Der ideale Ort, um ihr dabei zuzuschauen, sind die Nocks, die offenen Bereiche zu beiden Seiten der Brücke. Natürlich haben die Konstrukteure des Schiffs nicht an uns gedacht, als sie das Geländer entwarfen, aber nun ist es da, und für das Abstellen von Wein, Bier und kleinen Snacks ist es nachgerade optimal. Beste Voraussetzung für das Erleben jener Gänsehautmomente, die wir kaum jemals vergessen werden: die wechselnde Färbung der Wolken, die Schatten, die über das Wasser gleiten, die untergehende Sonne, die Myriaden von Glitzerpünktchen auf seine Oberfläche setzt. Und ringsum nichts anderes als Meer, eine faszinierende Einsamkeit, und das nächste Land so weit entfernt, dass es mehrere Tage bräuchte, es zu erreichen.
 
Schließlich ein letzter Gänsehautmoment am Ende unserer Fahrt. In Santos verlassen wir das Schiff, wir wollen mit einem Taxi zum nächstgelegenen Flughafen nach Sao Paulo fahren, um von dort aus vor unserer Heimreise - "wenn man schon mal in dieser Gegend ist" - noch einen einwöchigen Abstecher nach Rio zu machen. Nach kurzer Fahrt müssen wir das Gewässer überqueren, das den Hafen von Santos mit dem Meer verbindet. Eine Brücke gibt es nicht, der gesamte Verkehr ist auf Autofähren angewiesen. Rasch füllt sich unsere Fähre, und schon ist sie zum Ablegen bereit, als ihre Fahrt kurzzeitig gestoppt werden muss. Vom Hafen her schiebt sich ein Schiff durchs Wasser, riesig groß, mit roter Bordwand, weißen Aufbauten und zahllosen verschiedenfarbigen Containern an Deck. Majestätisch gleitet es dem Meer entgegen, während wir vor unserem Taxi stehend es anstarren: die "Cap San Lorenzo". Von der wir aufgrund einer Kommunikationspanne nicht wussten, dass sie gleich nach unserem Von-Bord-Gehen auslaufen würde, und die wir nun ein letztes Mal in voller Größe bewundern können. "Ganz großes Kino" ist der Spruch, der mir zu diesem Abschied nach 18tägiger Fahrt einfällt. Nach einer Fahrt, auf der eines vollständig gefehlt hat: Langeweile.
 
Manfred Lentz (Februar 2016)
 

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